Archiv 2018

Archiv 2018

An dieser Stelle finden Sie ausgewählte Berichte über von uns organisierte Veranstaltungen und die Arbeit in Projekten im Jahr 2018.
Fotos (c): Stephan Wallocha
Infos und Gespräche - Veranstaltung für junge Migranten und Geflüchtete zur Ausbildung

Sie wussten um ihre Chance. Bereits kurz nach dem Einlass um 17.30 Uhr sind am 16.10.2018 bereits alle 120 Sitzplätze im Albert-Schäfer-Saal in der Handelskammer Hamburg (HK) besetzt. Eingeladen zu der Veranstaltung "Perspektive Ausbildung - Chancen für Jugendliche mit Migrationshintergrund" waren Jugendliche mit Migrations- und Fluchthintergrund. Einige werden von ihren Lehrern, Betreuern oder Vertrauenspersonen von einer Migrantenorganisation zu der gemeinsamen Veranstaltung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, der HK und der Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten e.V. (ASM) begleitet.

Nach der Begrüßung durch Heinz Ackermann vom Ministerium und HK-Abteilungsleiter Fin Mohaupt erläutert ASM-Projektleiterin Arzu Pehlivan die Bedeutung der dualen Ausbildung in Deutschland und stellt die Angebote von ASM vor. Anschließend haben drei Auszubildende das Wort. Von Moderator Osman Citir befragt, berichten Patryk Skopinski, Farnaz Kariminejad und Mohamad Janat von ihrem Weg in die duale Berufsausbildung und von ihren Erfahrungen.

Bei Patryk Skopinski führte die Pleite seines Betriebes, bei dem er Kfz-Mechatroniker lernte, zu einer beruflichen Umorientierung: "Ich wollte meine Lehre fortsetzen, habe aber auf meine Bewerbungen immer nur Absagen bekommen. Da ich große Maschinen liebe, habe ich bei Otto Dörner angefangen und bin jetzt im dritten Ausbildungsjahr zum Berufskraftfahrer." Diesen Beruf hatte Patrick durch seinen Onkel kennengelernt.
Die Antwort auf die Frage, was die Azubis am meisten an ihrem künftigen Beruf schätzen, fällt angesichts der verschiedenen Branchen und Ausbildungsberufe naturgemäß sehr unterschiedlich aus. Während Patrick davon schwärmt, dass der Beruf sehr vielseitig sei und "ich mein eigener Chef in meiner Kabine bin", macht dem angehenden Bahnmitarbeiter Mohamad Janat die Teamarbeit viel Spaß, und die Auszubildende zur Reiseverkehrskauffrau Farnaz Kariminejad bemerkt druckreif: "Wir verkaufen keine Produkte, sondern Träume."

Anschließend berichtet noch Inga Schmid, Ausbilderin bei Subway, von den guten Karrierechancen in dem Unternehmen und der Möglichkeit, sich nach der Ausbildung mit einem Franchisebetrieb selbstständig zu machen. Zeugnisse seien nicht wichtig, aber sehr wohl die Begeisterung für das, was man tue und die Bereitschaft zum Dialog mit dem Betrieb, wenn es mal Probleme gebe. Die Veranstaltungsteilnehmer erfahren: 85 Prozent der Mitarbeiter von Subway sind Migranten.
Im hinteren Bereich des Saals sind die Infotische von verschiedenen Betrieben aufgebaut. Dort kommt es im Anschluss an den offiziellen Teil zu vielen Gesprächen zwischen Unternehmensvertretern und den jungen Besuchern der Veranstaltung. Die haben erkannt: Diese Chance, niedrigschwellig und locker mit Personalern ins Gespräch zu kommen, kann man sich nicht entgehen lassen.
Dokumentation der dreiteiligen Veranstaltungsreihe „Angekommen HIER. Deutsche Zustände zwischen Verklärung und Verachtung“ vom 24. bis 26. Juni 2018

Teil 1) Deutsche Zustände – eine literarische Annäherung an Gegebenheiten heute und während der NS-Zeit mit dem Kulturwissenschaftler Helmut Lethen
Mit der Veranstaltungsreihe „Angekommen.HIER – Deutsche Zustände zwischen Verklärung und Verachtung“ meldet sich ASM in der aktuellen hitzigen Debatte über Einwanderung zu Wort. Zum Auftakt hatte der gemeinnützige Verein den Germanisten und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen sowie den Autor Feridun Zaimoglu am 24.6.2018 ins Quality Hotel Ambassador eingeladen. Zaimoglu las zu Beginn des Nachmittags aus seinem von ASM herausgegebenen Buch „HIER.Geschichten von jungen Flüchtlingen in Deutschland“.
Anschließend führte Helmut Lethen in sein in diesem Jahr erschienenes Buch „Die Staatsräte – Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt“ ein und las ein Kapitel über das fiktive Gespräch der vier Staatsräte in Berlin, in dem diese auf den von den Nazis hochgehaltenen Wert der Volksgemeinschaft zu sprechen kommen. Lethen sagte dazu: „Der Gedanke der Identität muss künstlich hergestellt werden. Ich stelle mir eine Art Trichter für die Volksgemeinschaft vor: Oben sind die Kommunisten und Sozialdemokraten, die man schält, darunter Juden, dann kommen Homosexuelle und Roma und dann bleibt die Herrenrasse der NS, die sich in vielen Jahrhunderten die Identität des deutschen Volkes herausarbeiten muss.“

Im Lauf des von ASM-Geschäftsführerin Marion Wartumjan moderierten Gesprächs kommen sie und Lethen auf den von den neuen Rechten verehrten Staatsrechtler Carl Schmitt zu sprechen, der 1933 von Hermann Göring zum Staatsrat ernannt wurde.
Helmut Lethen: „Carl Schmitt hat gesagt: ‚Feind ist, wer durch sein Anderssein die Existenz des anderen bedroht.‘“ Um die Gefahr zu erkennen, müsse man sich mit dieser Denkweise beschäftigen, so Lethen.

Auch Wartumjan plädierte dafür, „aktuelle Zustände und das gesellschaftliche Klima genau zu analysieren und Meinungsfreiheit nicht einem Anpassungsmoralismus zu opfern. Herausforderungen der Migration und Probleme bei der Integration erlebe das Team von ASM in der alltäglichen operativen Arbeit; in der öffentlichen Debatte wurden diese jedoch über Jahre hinweg verniedlicht oder verharmlost. Auch dies habe dazu beigetragen, rechtsradikale Auffassungen politik- und salonfähig zu machen. Einwanderung würde derzeit zum Sündenbock für die Unsicherheit gemacht, die weltweit durch fundamentale technische Veränderungen, Produkt- und Prozesserneuerungen ausgelöst wurden. „Lethens Buch berührt grundlegende Fragen der heutigen Zeit“, so Wartumjan. 

Teil 2) Plädoyer für einen deutschen Islam –  Gespräch mit Eren Güvercin und Feridun Zaimoglu zum Thema „Glauben“
Migration stärkt Religion – so lautet ein Lehrsatz von Religionsforschern. Mit dieser Aussage stieg Moderatorin Marion Wartumjan am 25.6.2018 auf dem ASM-Themenabend „Der Glaube, die Gläubigen und unsere Gesellschaft“ ins Gespräch mit dem Journalisten Eren Güvercin ein. Die ASM-Geschäftsführerin führte aus, dass Auswanderung äußerst riskant sei, bedeute sie doch einen Aufbruch in eine unsichere Zukunft.  In dieser Situation würden sich Menschen an ihren Gott klammern, der in einer neuen, oft feindlichen Umgebung für innere Sicherheit sorge.
Der Moslem Eren Güvercin plädierte für einen „deutschen Islam“. Darunter versteht der Autor des Buches "Neo-Moslems - Porträt einer deutschen Generation" Predigten in den Moscheen, die an die Lebenswirklichkeit der Migranten in Deutschland anknüpfen. Dazu brauche es Imame, die nicht nur für einige wenige Jahre aus der Türkei abgesandt werden, sondern Imame, die die Lebenswirklichkeit der Moslems in Deutschland kennen. Die Predigtsprache sollte Deutsch sein. So können auch die neu hinzugekommenen Menschen aus Afghanistan, Syrien oder aus anderen Ländern an den Predigten teilhaben.

Auch das Christentum war Thema des Abends. Der christliche Glaube ist in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts tiefer verwurzelt, als es vielerorts den Anschein hat. Wartumjan steuerte die entsprechenden Fakten bei: „Am Wochenende gehen mehr Menschen zum Gottesdienst als in die Bundesligastadien und in Umfragen bezeichnen sich 70 Prozent der Befragten als religiös.“ Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von „believing without belonging“ und meinen damit Menschen, die glauben, jedoch nicht am Kirchenleben teilnehmen.
Weltweit befänden sich fundamentalistische Glaubensformen auf dem Siegeszug gegenüber liberalem Ausleben von Religiosität, so die ASM-Geschäftsführerin. „Die Vielfalt der Lebensweisen erzeugt Unübersichtlichkeit. Fundamentalismen fordern von den Frommen viel, aber sie bieten auch viel: starke Überzeugungen, stabile Weltbilder, dichte emotionale Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, Netzwerke gelebter Solidarität und Nächstenliebe. Das macht fundamentalistische Formen für Menschen anziehend, darin liegen heute  große Gefahren“.

„Die Glaubensdebatten wurden immer sehr verödet geführt“ merkte Feridun Zaimoglu an. Der Schriftsteller und Ehrenprofessor des Landes Schleswig-Holstein hatte die Themenabende begleitet und dabei aus dem Buch „HIER. Geschichten von jungen Flüchtlingen in Deutschland“ gelesen. „Gehört der Islam zu Deutschland, ja oder nein? Der Islam hat die letzten 100 Jahre keine Rolle in Deutschland gespielt. Aber trotzdem gibt es eine große Empörungswelle“, so Zaimoglu.  Dazu bemerkte Güvercin: „Die Debatten werden aufgeheizt geführt. Dabei gelingt das Zusammen-leben von Muslimen und Nicht-Muslimen im Alltag gut. Aber das wird selten bis nie öffentlich thematisiert.“
Wie erwartet, war der Bedarf des Publikums, sich zum Thema Glauben zu Wort zu melden und auch Fragen stellen zu können, groß. Ihm wurde mit einem „get together“ mit den Protagonisten Rechnung getragen.

Teil 3) Ein Lebensweg mit vielen Kurven – die Ombudsfrau für die Hamburger Flüchtlingsarbeit, Annegrethe Stoltenberg, zu Gast beim ASM-Themenabend zur Rolle von Frauen
In welche Gesellschaft kommen Frauen, die nach Deutschland geflüchtet sind? Welche Verletzungen und welche Versehrtheit bringen sie mit? Mit welchen neuen Rollenbildern sehen sie sich konfrontiert? Um diese Fragen drehten sich die literarischen Geschichten von Autor Feridun Zaimoglu, der zu Beginn des dritten und letzten Abends der Lese- und Gesprächsreihe von ASM aus dem Buch „HIER. Geschichten von jungen Flüchtlingen“ vortrug.

„Die gerade Linie ist gottlos“ würde Annegrethe Stoltenberg, Hundertwasser zitierend, ihre Autobiografie nennen wollen.  ASM-Geschäftsführerin Marion Wartumjan, Moderatorin des Abends, eröffnete mit diesem Zitat das Gespräch mit der Ombudsfrau der Hamburger Ombudsstelle in der Flüchtlingsarbeit beim Themenabend „Rollen von Frauen im Miteinander“.  Die ehemalige Diakoniechefin in Hamburg blickt auf einen nicht geradlinig verlaufenen Lebensweg zurück: Mit 18 Jahren trat sie aus der Kirche aus, studierte Erziehungswissenschaften und arbeitete als Lehrerin.

Stoltenberg: „Ich war die erste Frau unter 150 Kollegen und 3000 Schülern an der Gewerbeschule für Kraftfahrzeugmechaniker.“ Zuvor hatte der Leiter der Berufsschule sich vergebens dagegen gewehrt, eine weibliche Lehrkraft zugewiesen zu bekommen. Durch Reisen nach Asien und die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus erwuchs in Stoltenberg der Wunsch, sich intensiv mit unserer Kultur auseinanderzusetzen. Sie fing an, Theologie zu studieren, und wurde schließlich die erste Frau im Amt der Landespastorin.
Wartumjan nahm Stoltenbergs Biografie zum Anlass, um darauf hinzuweisen, dass Frauen auch hierzulande historisch gesehen noch gar nicht lange alle Möglichkeiten der freien beruflichen Entscheidung hätten. „Das sollten wir uns gerade in der Begeg-nung mit Menschen aus anderen Ländern bewusst machen.“

Stoltenberg schilderte ihre Eindrücke, die sie bei Besuchen von Flüchtlingsunter-künften gewonnen hat: „Auffällig ist, dass Frauen sich in hohem Maße verantwortlich für ihre Kinder, für die ganze Familie fühlen.“ Auf die enge räumliche Situation in den Erstaufnahmeeinrichtungen und darauf, dass sie ihre Familie nicht bekochen könnten, würden sie klassischerweise mit Depressionen reagieren und trotz dieser Verhältnisse schwanger werden.
Doch gebe es einige Frauen, die sich scheiden lassen und nicht mehr so viele Kinder haben wollten, weil sie andere Rollenmodelle sehen würden. Das führe zu Konflikten, so Stoltenberg. Mehr Teilhabemöglichkeiten für Frauen zu ermöglichen, sei nicht nur eine Bringschuld der aufnehmenden Gesellschaft, kam sie auf die Rolle der Männer zu sprechen.
 
Die Moderatorin betonte, dass es in früheren Jahren der Integrationspolitik versäumt worden sei, viel in Bildung für Frauen und damit zugleich in die Kinder zu investieren. An dieser Stelle schaltete sich Feridun Zaimoglu in das Gespräch ein: „Das nutzt nichts, wenn der Mann zu Hause ein Betonkopf ist. Die Männer sind das Problem. Wenn man in einer Stadt lebt, sollte man auch eine Verstädterung vornehmen.“ Mit dem Plädoyer von Wartumjan, den Frauen motivierende Angebote für Bildung und Beruf zu machen, ging das Gespräch zu Ende und die Gäste kamen im Anschluss bei einem Imbiss ins Gespräch.

Die Veranstaltungsreihe wurde gefördert durch:
Flüchtlingsfonds Hamburger Stiftungen, Novum Hospitality, Böttcher Stiftung, Hamburger Stiftung für Migranten

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